Vorhersehbares Wegdriften der Realität

wegdriften
Neuronaler Unscharfpunkt nach Gofthe (Maler)

Kaum etwas bereitete Karl Gong so viel Freude, verschaffte ihm aber auch so viel Aufregung wie das Wegdriften, das langsame Auslöschen seines Verstandes beim Übergang vom öden Bearbeiten der Dokumente in den sich nach dem Mittagessen automatisch einstellenden Bureauschlaf. Die Realität verwischte und vermischte sich hinter seinen geschlossenen Lidern mit den Figuren, die ihm aus seinen Albträumen nur allzu bekannt vorkamen, die also an der Pforte zum schlummernden Wahnsinn herumlungerten, ihn an die Hand nahmen und in ihre seltsamen Verrichtungen hineinzogen, mitgegangen mitgehangen, er war zu schwach, sich zu wehren.

Die Unangetraute, die des Abends darüber wachte, dass er sich nicht mit verdächtigen Gestalten einließ, hoppelte fern von ihm auf dem Rücken eines Pferdes über den Acker, zu dem die verfluchten Wildschweine seine schöne Wiese gemacht hatten, alles frisch eingesät, er hatte sich so viel Mühe gegeben, nachts, denn tagsüber hatte er die Stallungen für die Pferde errichten müssen, Wildschweine mit Hauern so lang wie der zugegeben extra kurze Fahrradlenker, den er sich als Kind vom Dorfschmied hatte schweißen lassen, nackt also schwebte die Holde auf ihrem Apfelschimmel über die niedergerissenen Grundstücksmauern, hinter ihr her in glänzend goldener Rüstung der Schnabel-Schorsch von gegenüber, so jagte er sie, die mittlerweile erblondete, hühnenhafte Frau, das Spalier der Dorfkretins höhnte zu ihm herüber, die Fratzen, die er nur zu gut kannte, ergötzten sich an den Reitenden; die stoben über den von meterhohen Kakteen bewachsenen Dorfanger, der sich bis zum Getreidesilo erstreckte, aus dessen aufgeschlitztem Dach ein übergroßer, mampfender Sperling keckernd und feixend herausschaute; heiße, rotglühende Eifersucht überschwemmte Karl Gong, nur noch übertroffen vom klatschenden Entsetzen, als der Schnabel-Schorsch von einem dahinrasenden gelben Schulbus aus Wellblech mit voller Wucht seitlich gerammt und pulverisiert wurde.

„Plong!“ machte Karl Gongs Knie, als es mit voller Wucht von unten gegen die Tischplatte seines Schreibtischs knallte. Er riss die Augen auf, starrte die Mayersche an, die mit wehender Unterschriftenmappe an ihm vorbeischnöselte, und speicherte endlich seine bearbeiteten Dokumente.

Die rasende Eifersucht auf den Schnabel-Schorsch ebbte erst nach einigen Tagen langsam ab.

„Welcher Schnabel?“ fragte die Holde, als Gong sie nach einem der üblichen abendlichen Rapports vorsichtig auf den Nachbarn ansprach. „Es gibt hier keinen Schnabel.“

Zweifelnd legte Karl Gong den Kopf schief, erwiderte nichts und trollte sich. Grüßen würde er den Kerl jedenfalls frühestens im nächsten Jahr wieder, wenn überhaupt.